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Der All­tag steht Kopf: Leben mit pfle­ge­be­dürf­ti­gen Kindern

Dass die eigenen Eltern irgendwann zum Pflegefall werden können ist vielen bewusst. Doch wie steht es eigentlich mit den eigenen Kindern? Insgesamt gibt es in Deutschland nämlich 190.000 Kinder und Jugendliche, die einen Pflegebedarf aufweisen. Maja und Heiner kennen diese Situation. Im Alter von zwei Jahren wird ihre kleine lebensfrohe Ella pflegebedürftig.

Kleines Mädchen guckt neugierig aus dem Fenster

Foto: Jeremiah Lawrence

Die Diagnose: RETT-Syndrom - wie bei Ella alles begann

Als Baby machte Ella zunächst eine typische Entwicklung durch. Kurz bevor sie ein Jahr alt wurde, setzte bei ihr ein nervöses Atmen ein, auch die Handmotorik wurde schlechter. Die Sprachentwicklung hörte abrupt auf und machte sogar Rückschritte. Die Sorgen von Maja und Heiner wurden von Tag zu Tag größer. Individuelle Entwicklungs- und Verdauungsschwierigkeiten kamen hinzu. Vor ihrem 3. Geburtstag im Januar 2022 dann die Diagnose: RETT-Syndrom.

Familienfoto von Heiner, Maja und Ella, die eine Papierkrone auf dem Kopf trägt

Foto: Maja Kuzmanovic

Maja (34) und Heiner (37) leben beide in der Nähe von Oldenburg und arbeiten im sozialen Bereich - Maja als Sozialarbeiterin und Heiner als Förderschullehrer. Seit 2018 sind die beiden verheiratet. Sie haben zusammen ein Kind: Ella.

“Ella konnte vorher selbständig essen und alles selbständig greifen und das konnte sie auf einmal nicht mehr. Das war der Punkt, an dem uns klar wurde: Da stimmt irgendwas nicht!”

Definition: RETT-Syndrom

Bei dem RETT-Syndrom handelt es sich um eine neurologische Störung, die hauptsächlich bei Mädchen auftritt. Die betroffenen Kinder durchleben vorerst eine normale Entwicklung, verlieren allerdings zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat bereits erlernte Fähigkeiten wieder. Insbesondere die Sprache und die Funktion der Hand erleiden einen Entwicklungsstillstand bis hin zu Bewegungsstörungen und fortwährenden Verlust.

Menschen mit RETT-Syndrom zeigen typischerweise Symptome von Autismus und Störungen der Bewegungskoordination auf. Das Syndrom wurde 1966 zum ersten Mal von dem Kinderarzt Andreas Rett beschrieben.

Von der Entwicklungsstörung sind in Deutschland aktuell etwa 5.000 Mädchen und Frauen betroffen. Pro Jahr werden es 50 Kinder mehr, die an dem Syndrom erkranken. Geschätzt wird die Häufigkeit des Auftretens der Krankheit auf 1:10.000. Nach dem Down-Syndrom ist das RETT-Syndrom die zweithäufigste Behinderung bei Mädchen.

Besonderheiten und Auswirkungen

Eine weitere Besonderheit der Krankheit: man kann sie bei den vorherigen Schwangerschaftsuntersuchungen nicht zwingend finden. Außer man sucht gezielt danach. Denn selbst bei der Suche nach Gendefekten im Labor wurde bei Ella erstmal nichts herausgefunden.

Maja: “Danach ging alles ganz schnell, wir mussten super viele Termine vereinbaren. Und dann ging es auch los mit den vielen Fragen und der Forschung. Da macht man sich als Eltern auch erst mal Panik!”

Foto: Jonathan Borba

Die ersten Schritte nach der Diagnose

Hier folgt schon der ganze Papierkram, der meist eine ebenso große Belastung mit sich bringt wie die Diagnose selbst. Maja: “Seit Januar mussten wir super viele Anträge stellen: Behindertenausweis, Pflegegeldantrag, Pflegehilfsmittel, Pflegeversicherung. Das bedeutet: Zusätzliche Termine zur Belastung, Menschen am Telefon oder bei uns zu Hause – und das braucht auch seine Zeit und Nerven.” Zudem gilt es den Pflegegrad des Kindes zu ermitteln, um alle weiteren Dinge besser planen und abwägen zu können. Welche finanzielle Unterstützung wird es brauchen, welche Therapien kommen in Frage und wie wird sich die neue Routine in Zukunft gestalten?

Gut zu wissen
​​Hippotherapie:

Bei einer Hippotherapie handelt es sich um einen therapeutischen Reitkurs. Pferde können außergewöhnliche Bewegungsimpulse setzen. Aus diesem Grund wird die Therapieform meistens bei Patientinnen und Patienten eingesetzt, die Probleme mit dem zentralen Nervensystem und/oder des Stütz-und Bewegungsapparats haben.

Die ersten Schritte nach der Diagnose

Hier folgt schon der ganze Papierkram, der meist eine ebenso große Belastung mit sich bringt wie die Diagnose selbst. Maja: “Seit Januar mussten wir super viele Anträge stellen: Behindertenausweis, Pflegegeldantrag, Pflegehilfsmittel, Pflegeversicherung. Das bedeutet: Zusätzliche Termine zur Belastung, Menschen am Telefon oder bei uns zu Hause – und das braucht auch seine Zeit und Nerven.” Zudem gilt es den Pflegegrad des Kindes zu ermitteln, um alle weiteren Dinge besser planen und abwägen zu können. Welche finanzielle Unterstützung wird es brauchen, welche Therapien kommen in Frage und wie wird sich die neue Routine in Zukunft gestalten?

Gut zu wissen
​​Hippotherapie:

Bei einer Hippotherapie handelt es sich um einen therapeutischen Reitkurs. Pferde können außergewöhnliche Bewegungsimpulse setzen. Aus diesem Grund wird die Therapieform meistens bei Patientinnen und Patienten eingesetzt, die Probleme mit dem zentralen Nervensystem und/oder des Stütz-und Bewegungsapparats haben.

Heiner: “Wir waren natürlich erstmal geschockt, denn die ganzen Gedanken, die wir uns darüber gemacht haben, dass hier etwas nicht stimmt, waren wahr – und auch, dass hier vorher nicht genau hingeschaut wurde.”

Wie sieht der Alltag mit einem pflegebedürftigen Kind aus?

Maja: “Viele Kinder können sich selbstständig fortbewegen. Ella hingegen ist immer darauf angewiesen, dass einer von uns dabei ist. Sie hat eigentlich 24/7 Betreuung und das ist natürlich ein anderer Alltag, als bei anderen Kindern, die sich mal selber die Hände waschen, sich selber an den Tisch setzen oder selber essen können.” Neben den alltäglichen Herausforderungen besucht Ella seit der Diagnose die Frühförderung, eine Hippotherapie, Physiotherapie, Logopädie und einen Schwimmkurs. Das bringt Ella nicht nur Unterstützung, sondern auch sehr viel Spaß.

Heiners Eltern sind körperlich nicht in der Lage, Ella zu pflegen und Majas Eltern sind beide ebenfalls berufstätig. Aus diesem Grund ist eine Tagesmutter ebenso eine große Stütze im Alltag, wie auch der Kindergarten, der zum Teil die therapeutische Betreuung mit abdeckt.

Tipps & Tricks: Wie kann ich den Alltag erleichtern?

1.

Ein Kindergarten in Wohnnähe, der zusätzlich die therapeutische Betreuung weitestgehend abdeckt, um lange Fahrzeiten zu vermeiden.

2.

Eine geschulte Tagesmutter, die für ein paar Stunden auf das Kind aufpasst, damit die eigentlichen Aufgaben des Alltags geleistet und eigene körperliche und psychische Bedürfnisse beachtet werden können.

3.

Eine Gehhilfe, wie beispielsweise ein Rollator und/oder Hilfsmittel für das Kind, damit dieses ein Stück weit mehr Eigenständigkeit und Freiheit für sich gewinnt.

4.

Eine Pflegeberatung, die bei den weiteren Schritten für Beantragungen und Ansprüche unterstützen und beraten kann.

Mutter sitzt mit zwei kleinen Kindern auf der Couch und schaut ein Bild auf einem Tablet an

Das Gespräch mit befreundeten Personen und Familie suchen und sich nicht dafür schämen, dass man Hilfe braucht.

5.

Die Beanspruchung von Hilfe bei einem SPZ (Sozialpädiatrisches Zentrum), um Leistungen zu erhalten, die einen entlasten können.

6.

Elektronische Spielsachen, die Reize in dem Kind auslösen, um es motorisch und geistig zu fördern.

7.

Kommunikationskarten, die dem Kind helfen, sich auf seine Art und Weise ausdrücken und mitteilen zu können.

8.

Die größten Herausforderungen

Obwohl Maja und Heiner durch ihre Berufe in dem Gebiet geschult sind und wissen, wie sie die komplizierten Anträge auszufüllen haben, kommen trotzdem neue Herausforderungen auf die beiden zu.

Heiner: “Für mich war es schwer, das einzuordnen: Denn hier bin ich nicht auf der Arbeit, der professionelle Pädagoge, der über genau das Gleiche mit den Eltern spricht, um dann das Gutachten zu schreiben. Sondern hier bin ich der Papa und genau das macht es für mich so schwer. Denn diesmal beurteile ich das Ganze nicht mehr als Außenstehender.”

Auch den Überblick über alle Anträge und Unterstützungsmöglichkeiten zu behalten, erfordert neben der alltäglichen Belastung weitere Geduld und erzeugt zusätzlichen psychischen Stress.

Maja: “Es wird immer wieder klar: Egal was es ist, man muss erst richtig ackern, alle Anträge stellen, um letztendlich ein wenig Entlastung zu bekommen. Dass das auch stark an der Psyche der Eltern zerrt, unterschätzen die meisten stark. Wenn man dann aber sieht, wofür man das alles macht und dass Ella glücklich ist und es ihr dadurch besser geht, weiß man auch, dass es die richtige Entscheidung war, sich durch alle Anträge zu beißen.”

Gut zu wissen
Sozialpädiatrisches Zentrum

In einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) können Eltern im Rahmen einer Frühförderung Unterstützung und Leistungen für Kinder mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen erhalten. Je nach Art, Dauer und Schwere der Behinderung werden diese individuell angepasst. Auch wenn der Verdacht auf eine bestimmte Beeinträchtigung besteht, können Kinder bei einem SPZ untersucht, betreut und behandelt werden. Und das von verschiedenen Fachärzten, Therapeuten und Physiotherapeuten, wie auch vielen Weiteren. 

Die größten Herausforderungen

Obwohl Maja und Heiner durch ihre Berufe in dem Gebiet geschult sind und wissen, wie sie die komplizierten Anträge auszufüllen haben, kommen trotzdem neue Herausforderungen auf die beiden zu.

Heiner: “Für mich war es schwer, das einzuordnen: Denn hier bin ich nicht auf der Arbeit, der professionelle Pädagoge, der über genau das Gleiche mit den Eltern spricht, um dann das Gutachten zu schreiben. Sondern hier bin ich der Papa und genau das macht es für mich so schwer. Denn diesmal beurteile ich das Ganze nicht mehr als Außenstehender.”

Auch den Überblick über alle Anträge und Unterstützungsmöglichkeiten zu behalten, erfordert neben der alltäglichen Belastung weitere Geduld und erzeugt zusätzlichen psychischen Stress.

Maja: “Es wird immer wieder klar: Egal was es ist, man muss erst richtig ackern, alle Anträge stellen, um letztendlich ein wenig Entlastung zu bekommen. Dass das auch stark an der Psyche der Eltern zerrt, unterschätzen die meisten stark. Wenn man dann aber sieht, wofür man das alles macht und dass Ella glücklich ist und es ihr dadurch besser geht, weiß man auch, dass es die richtige Entscheidung war, sich durch alle Anträge zu beißen.”

Gut zu wissen
Sozialpädiatrisches Zentrum

In einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) können Eltern im Rahmen einer Frühförderung Unterstützung und Leistungen für Kinder mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen erhalten. Je nach Art, Dauer und Schwere der Behinderung werden diese individuell angepasst. Auch wenn der Verdacht auf eine bestimmte Beeinträchtigung besteht, können Kinder bei einem SPZ untersucht, betreut und behandelt werden. Und das von verschiedenen Fachärzten, Therapeuten und Physiotherapeuten, wie auch vielen Weiteren. 

Ein Ratschlag für Eltern

Die Devise, die Heiner und Maja anderen Eltern mit auf den Weg geben, ist: Geduld.

Maja: “Es ist unfassbar bürokratisch und man muss viel hinterher telefonieren. Es gibt viele Hürden, die da auf einen zukommen. Ein wichtiger Faktor ist auch, auf sich selbst zu hören und sich einzugestehen: Was brauche ich als Mama, was brauche ich als Partner und welche Rückzugsmöglichkeiten und Erholungsphasen brauche ich? Es ist in Ordnung, Hilfe in Anspruch zu nehmen, dafür muss man sich nicht schämen!”

Mehrausgaben & Finanzielle Unterstützung

Neben der psychischen und physischen Belastung kommt die finanzielle Komponente hinzu. Sobald ein Kind pflegebedürftig ist, muss geklärt werden, welchen Pflegegrad das Kind hat. Je höher der Pflegegrad, desto höher auch die finanzielle Unterstützung und das Pflegegeld, das Eltern monatlich erhalten. Dies dient nicht nur der eigenen Entlastung, sondern auch für die Mehrkosten, die durch die Pflege entstehen. Viele kleinere Hilfsmittel, wie Trink- oder Essenshilfen, werden allerdings finanziell nur übernommen, wenn sie vorher beantragt werden. Auch eine finanzielle Unterstützung für den barrierefreien und behindertengerechten Umbau des Hauses ist möglich.

Wie geht es in Zukunft weiter?

Maja und Heiner sind zwar realistisch, aber auch hoffnungsvoll. Sie bauen auf die weitere Forschung an dem Syndrom.
Heiner: “Ich hoffe, dass die Forschung zügig vorangeht und etwas auf den Markt bringt, um den Menschen zu helfen. Etwas, dass es Ella erlaubt, sich irgendwann auf ihre Art und Weise ausdrücken zu können, um auch ein wenig Selbstständigkeit zurückzubekommen. Und vor allem auch, dass man für eine Entlastung, die man erfahren möchte, keine weiteren Belastungen mehr auf sich nehmen muss.”
Maja: “Zudem würden wir uns auch wünschen, dass die Gesellschaft mehr davon erfährt, weil das RETT-Syndrom ist neben dem Downsyndrom einfach die zweithäufigste Genveränderung”. Je mehr Menschen davon wissen, desto mehr kann die Forschung in diesem Bereich auch vorangetrieben werden.